Tierischer Nordwesten
Am Bahnhof von Negombo herrscht reges Treiben. Noch ist der Fahrkartenschalter geschlossen, ein buntes Gemisch an Einheimischen und Touristen harrt der Dinge. Erst kurz vor Abfahrt lässt sich ein Ticket erstehen, klein und braun, aus dickem Karton – Kindheitserinnerungen werden wach. Der Bummelzug entlang der Westküste in Richtung Norden ist nur mit Wagen der dritten Klasse bestückt. Wir machen uns auf ein Gedränge und Verspätung gefasst, doch zu unserem Erstaunen trifft schliesslich keines von beidem zu. Mühelos ergattern wir einen Fensterplatz auf der Schattenseite, ganze Abteile bleiben sogar leer. Die Sitzbank ist hart, die Zugwagons verlottert. Lautstark rotieren Ventilatoren an der Decke, sofern sie überhaupt noch funktionieren. Zusätzlich strömt der Fahrtwind durch das offene Fenster, vertreibt die schwüle Luft und wuschelt angenehm durch unsere Haare.
Nach vier Nächten in Negombo nimmt unsere erste Reiseetappe in Sri Lanka einen beschaulichen Lauf. Die Eisenbahn hüpft wie ein Gummiball, das Rattern wirkt bald einschläfernd. Kokospalmen, Bananenstauden und Papayabäume dominieren das Bild, Dörfer unterbrechen die ländliche Szenerie. Immer wieder halten wir an kleinen Bahnhöfen an, wo meistens nur wenige Leute ein- und aussteigen. Rund 100 Kilometer über die Schienen gehopst, erreichen wir dreieinhalb Stunden später Puttalam. Endstation. Die Stadt ist ein lebendiger Verkehrsknotenpunkt, von hier geht es mit dem Bus weiter. Das noch fast menschenleere Vehikel füllt sich rasch und der Fahrer schwingt sich auf seinen zerfetzten Sessel. Unterwegs steigen noch mehr Fahrgäste zu, die sich nun durch den engen Gang quetschen. Das körpernahe Sitzen auf unserer Dreierbank fühlt sich etwas an wie in einer Sardinendose. Schleunig ist Roland mit seinem jungen Sitznachbar in ein angeregtes Gespräch verwickelt.
Die schmale Kalpitiya Peninsula ragt wie ein abstehender Finger ins Meer hinaus und trennt den Indischen Ozean von der Puttalam-Lagune. Die Landschaft hier ist sichtlich karger, regnet es im Nordwesten Sri Lankas deutlich weniger als in anderen Teilen der Insel. Strände säumen die mehrheitlich von Muslimen besiedelte Halbinsel. Die Einwohner leben vom Fischfang, der Perlenzucht und der Salzgewinnung. Der Nachmittag ist mittlerweile fortgeschritten, als wir eineinhalb Stunden später aus dem Bus klettern und mit einem Tuk Tuk die letzten Kilometer unter drei Räder nehmen.
An den Stränden am Ende der Halbinsel haben sich einige Unterkünfte angesiedelt, aber die touristische Infrastruktur steckt noch in den Kinderschuhen. Der Fahrer setzt uns wie gewünscht in Kandakuliya ab. Das angepeilte Strandhotel ist leider ausgebucht, deshalb klappern wir die unmittelbare Umgebung ab. „Habt ihr eine Reservation?“, fragt man uns oftmals vorweg. Die heutige Entwicklung des Internet-Zeitalters lässt grüssen. Immer wieder stellen wir fest, dass heutzutage viele Reisende vorausbuchen, wenn auch erst am Tag zuvor. Auch wenn es noch verfügbare Zimmer gibt, sind diese manchmal gar nicht hergerichtet. Selbstverständlich bevorzugen auch wir in gewissen Situationen eine Reservation, aber ganz gerne nehmen wir eine Bleibe an Ort und Stelle erst in Augenschein, insbesondere im günstigen Preissegment.
Schliesslich finden wir nebenan Unterschlupf – das Zimmer spartanisch eingerichtet, die Dusche rinnt kalt. Dafür heisst uns die gastgebende Familie umso warmherziger willkommen. Erschöpft lassen wir uns in die Stühle auf der Veranda plumpsen. Vom Meer her weht ein starker Wind, fast schon ungemütlich. Wundern tut uns dieser Durchzug aber nicht, hat sich auf der Kalpitiya-Halbinsel eine lebendige Szene für Kitesurfer entwickelt. Haufenweise Wassersportler tummeln sich in der vorgelagerten geschützten Lagune, die Platzverhältnisse muten schon ziemlich eng an. Schirme in allen Farben fegen im Eiltempo über das Wasser – Anfänger haben hier wohl nichts zu suchen. Doch auch wenn hier Könner am Werk sind, beobachten wir gelegentlich ein Verheddern von Schnüren zweier Kiter.
An der Lagune vorbei schlendern wir dem goldgelben Strand entlang, passieren Fischer mit ihren schlichten Booten. Immer wieder verunstaltet etwas Müll den grobsandigen Streifen. Vom Ozean herangetragen oder achtlos weggeworfen – stört sich daran denn keiner? In einem Hotelrestaurant verwöhnen wir uns mit einem frischen Fruchtsaft, bevor wir im bewohnten Hinterland zurück bummeln. Esel und Kühe spazieren in Seelenfrieden frei herum. Ein paar Jungs winken uns zu. Etwas schüchtern kramen sie ihre englischen Vokabeln hervor – ihre Muttersprache sei Tamil. „Foto, Foto!“, rufen sie alle durcheinander und posieren stolz mit einem breiten Grinsen.
Vor der Küste, unter der Wasseroberfläche verborgen, gedeihen Korallenriffe. Für unsere Taucherherzen verlockend, doch die Rahmenbedingungen stimmen insgesamt nicht und wir sehen von einem Tauchgang ab. Dafür machen uns Eva und Henner eine Delfin-Tour schmackhaft, um die Kosten für das Boot zu teilen. Das aufgestellte deutsche Paar haben wir im Zug kennengelernt. Nebst den junggebliebenen Pensionierten frohlockt auch unser Reisehandbuch: „Zwischen November und April ist Kalpitiya der beste Ort um Delfine zu beobachten.“
Bevor wir an Bord dürfen, gilt es eine stolze Gebühr für den Marinepark zu bezahlen. In einer windschiefen Strohhütte am Strand kümmern sich drei Männer um diese finanzielle Angelegenheit, legen eine Liste mit unseren Personalien an und übertragen danach alles sorgfältig in ein grosses Buch. Nach erfolgter Bürokratie zischen wir in einem kleinen Motorboot ins weite Blau hinaus. Grössere Schiffe sind hier angeblich verboten – Indien liegt nicht weit entfernt, allfälliger Schmuggel sei verlockend. Frühmorgens in der Regel windstill, bläst es uns heute bereits zügig um die Ohren. Das wäre nicht bedauernswert, jedoch lassen sich im aufgebrachten Wasser Delfine weniger gut spotten.
Der Kapitän jagt die Nussschale über die Wellen, entsprechend hart ist der Aufschlag. Die Spritzer durchnässen uns, von einer gemütlichen Fahrt ist nicht die Rede, krampfhaft klammern wir uns an der Bank fest. Plötzlich umringt von rund zehn Booten, deren Abgase fürchterlich stinken. Das laute Knattern der Motoren schlägt jegliche Idylle in den Wind. Einmal können wir einen Blick auf eine Handvoll Delfine erhaschen, die sich aber in Windeseile verdrücken. Eigentlich durchaus verständlich, auch wir fühlen uns gestört. Es ist Sonntag und wohl deshalb ein solcher Rummel, in den meisten Booten sitzen nämlich Einheimische. Der Kapitän unterhält sich angeregt mit seinen Kumpanen und hängt ständig am Telefon – als versuche er die Delfine anzurufen. Doch den Draht zu den Meeressäugern scheint er nicht zu finden…
Nach einer Weile kehren die meisten Boote zurück, nur wir preschen weiter über den Wellenteppich. Die Hoffnung eigentlich längst aufgegeben und des unbequemen Sitzens leid. Doch dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, finden wir uns unverhofft inmitten einer riesigen Schule von grau schimmernden Gesellen wieder. Ohne zu übertreiben sind es bestimmt hundert oder mehr, die sich in den Wellen vergnügen. Synchron springen sie elegant aus dem aufgewühlten Nass, vollführen akrobatische Luftsprünge. Gelegentlich schiesst einer in die Höhe und dreht eine mehrfache Pirouette, um dann mit voller Wucht wieder ins Wasser zu klatschen.
Der Ostpazifische Delfin ist auch unter dem Namen Spinner Dolphin bekannt, weil diese Spezies Sprünge vollbringen, bei denen sie sich wie ein Bohrer rasch um ihre eigene Körperachse drehen. Der Grund für ihre charakteristischen Drehungen ist bislang unbekannt, wobei vereinzelte Exemplare angeblich bis über zehn solcher „Spinnings“ in Folge schaffen. Die verspielten Meeressäuger lassen unser Herz höher schlagen – die Begegnung ist schlichtweg überwältigend. Schon oft sichteten wir Delfine, insbesondere von Tauchschiffen, doch noch nie so viele auf einen Schlag. Die Ausdauer des Kapitäns hat sich gelohnt – erst nach vier Schaukelstunden spüren wir wieder den Sand unter den blossen Füssen.
Am nächsten Morgen kutschiert uns der Herr des Gasthauses mit seinem Tuk Tuk an die Bushaltestelle an der Hauptstrasse. „Thank you for staying at my place“, bedankt er sich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Weiterreise geht wie am Schnürchen, kommt nach wenigen Warteminuten ein Bus angebraust. In Puttalam umgestiegen, nehmen wir Kurs landeinwärts. Zu unserem Glück gibt es auch im zweiten Bus wieder einen freien Sitzplatz, was alles andere als selbstverständlich ist. Nur wenige Häuser markieren die Wilpattu Junction, eine Kreuzung in der Nähe des gleichnamigen Nationalparks. Nach insgesamt drei Reisestunden hechten wir aus dem Bus und nisten uns in einem Hotel ein. Unser Schlafgemach mit Veranda ist auf einen wildwüchsigen Garten ausgerichtet. Die schwüle Nachmittagshitze macht uns träge, kein Windhauch verschafft Erleichterung.
Punkt fünf Uhr in der Früh klingelt der Wecker. Noch ist es stockdunkel, als wir uns auf das offene Safari-Vehikel schwingen. Wir haben den Jeep ganz für uns allein, sind wir erstaunlicherweise die einzigen Übernachtungsgäste. Es ist neblig verhangen. Im Handumdrehen ist unser Haar tropfnass und die Brillen beschlagen ständig. Nach wenigen Kilometern erreichen wir den Eingang des Wilpattu Nationalparks. Ein Ranger mit geschultem Auge steigt zu und begleitet uns auf der Spurensuche. Bevor der Bürgerkrieg im Inselnorden ausbrach, war das Schutzgebiet der bekannteste und meistbesuchte Nationalpark Sri Lankas. Erst seit einigen Jahren wieder für Touristen geöffnet, herrscht hier kein Massentourismus, zumindest nicht bis heute. Mit einer Fläche ungefähr so gross wie der Kanton Aargau, zählt der Park zu den landesweit grössten Naturschutzgebieten.
Anfangs holpern wir durch dichten Dschungel, der fast ausnahmslos den Park ziert und das Erspähen der Tierwelt erschwert. Für Erste entdecken wir hauptsächlich verschiedenes Gefieder. Allmählich löst sich der mystische graue Vorhang auf und etwas Sonnenschein kann sich durchzusetzen. Auch lichtet sich das Dickicht, weitläufige Ebenen und Wasserstellen erschliessen unser Blickfeld. Der Wilpattu Nationalpark ist vor allem aufgrund seiner über 40 Seen bekannt, die sich wie überdimensionale Wasserpfützen in der Savannenlandschaft verteilen. Wegen des niedrigen Bewuchses um diese Wasserquellen, ist die Wahrscheinlichkeit auf Leoparden zu treffen, grösser als in anderen Nationalparks. Trotzdem nicht mit Afrika zu vergleichen, dürfen wir die Erwartungen nicht zu hoch schrauben, denn die Meister des Versteckens bekommt man selten zu Gesicht.
Unvermittelt deutet der Parkaufseher auf frische Spuren im sandigen Pfad. Aufgeregt nehmen wir die Spur der Leopardenpranken auf und hoffen inständig, die wohlgemusterte Raubkatze aufzuspüren. Doch leider verlaufen sich die Pfotenabdrücke in dichter Vegetation, auch geduldiges Warten nützt leider nichts. „Sorry, we couldn‘t find the leopard!“, entschuldigt sich der Ranger reumütig. Ist es die pure Natur und nicht zuletzt Glücksache, beschwichtigen wir den liebenswürdigen Kerl. Auch Elefanten leben im riesigen Wilpattu Nationalpark, aber die Rüsseltiere halten sich meistens in entlegenen Gebieten auf, die noch nicht wieder erschlossen sind. Somit erfreuen wir uns an der friedvollen Ruhe und an anderen Vierbeinern wie Büffel, Wildschweine, Krokodile, Warane und weiss gepunktete Hirsche.
Fünf Stunden später mit tierischen Impressionen wieder im Hotel zurück, packen wir unsere Siebensachen und stellen uns in der prallen Mittagssonne an die Strasse. Es dauert nicht lange, da gabelt uns ein heran düsender Bus auf – nordwärts gondeln wir weiter ins Landesinnere…
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