Von Reisefieber und Coronaviren
18. Oktober 2020. Dieses Datum hat sich längst in mein Hirn gebrannt, doch leider an Bedeutung verloren. Nachdenklich nippe ich an einer dampfenden Tasse Tee und gucke aus dem heimischen Stubenfenster. Wolken schmiegen sich wie eine Daunendecke über die Hügelzüge, von einem goldenen Herbst fehlt jede Spur. Fernweh kommt auf. Heute wären wir nach Indien geflogen. Die erste Etappe einer sechswöchigen Reise: Delhi, Bhutan und Malediven. Längst gebucht anfangs Jahr, zu einem Zeitpunkt, wo Corona noch für viele ein Fremdwort war – auch für uns.
Wehmütig denke ich an diese aufregende Reise, die im Laufe der letzten Monate allmählich zu zerbröckeln begann. Erst wurde der Hinflug durch die Fluggesellschaft annulliert, später der Rückflug um Tage verschoben. Die einstige Vorfreude wich einer grossen Ungewissheit, und allmählich bezweifelten wir, ob die Grenzen sich rechtzeitig öffnen werden. Die Reise anzutreten kam für uns ohnehin nur in Frage, wenn die Corona-Auflagen nicht allzu schwer wiegen. Vor einem knappen Monat erlosch der letzte Funken Hoffnung. Wir verschoben den Bhutan-Teil aufs nächste Jahr und stornierten das noch geschlossene Gästehaus auf den Malediven.
Ich tat sozusagen das, was ich seit Monaten tagtäglich für unsere Globetrotter-Kundschaft tue: annullieren, umbuchen, Abklärungen treffen und Probleme lösen. Gefangen in einem tristen Arbeitsalltag, aufgelockert durch Kurzarbeit. Beratungen und Buchungen sind selten, kein Wunder, spielt die ferne Reisewelt noch immer mächtig verrückt. Nur wenige Länder heissen Touristen bedingungslos willkommen; die meisten sind von Quarantänen betroffen oder nach wie vor bis auf Weiteres geschlossen.
Meine Gedanken kreisen und ich frage mich einmal mehr, wie alles weitergeht. Das Schlimmste: Es ist kein Ende in Sicht. Über sieben Monate sind verstrichen, seit Präsident Trump Mitte März verkündete, dass sich die USA abriegelt. Ich war geschockt, denn gleichzeitig wusste ich, dass nun der Umgang mit dem Coronavirus zum globalen Problem wird. Und dann ging alles Schlag auf Schlag – die Welt stand beinahe still. Damals fragten wir einander im Büro, ob die gebuchten Reisen im Sommer wohl stattfinden können. Den Herbst zweifelten wir nicht an, schon gar nicht den Winter. Und jetzt ist Oktober und es geht fast nichts, und innerhalb Europa ist sogar weniger möglich wie im Juli.
Je länger diese weltweite Krise andauert, desto mehr schwindet die Hoffnung, dass bald alles ausgestanden ist. Man kann sich inzwischen kaum mehr vorstellen, dass nächstes Jahr eine gewisse Normalität einkehrt. Ob es jemals wieder „normal“ läuft, so wie letztes Jahr? Doch wer weiss, vielleicht wäre einem neuen Normal auch Gutes abzugewinnen. Bleiben vielleicht positive Nebeneffekte zurück? Fürs Klima? Für die Natur? Gar Entschleunigung?
Vor uns liegen sechs Wochen Ferien. Doch die Freude ist gedämpft, wir fühlen uns beinahe lustlos. Ich glaube, Schuld ist einerseits das schon winterliche Wetter und andererseits diese lähmende Ungewissheit. Was heute ist, kann morgen schon anders sein. Das macht ein Planen schwierig und es kann keine echte Vorfreude aufkommen. Als im vergangenen Frühjahr unser gebuchter Monat auf den Kapverden dem Coronavirus zum Opfer fiel, war es anders. Es regierte ein Lockdown, die Lage und Botschaft war klar: Bleiben Sie zuhause. Die Sonnenstunden waren zahlreich, die Tage lang, eine Auszeit in der Heimat hatte durchaus seinen Reiz. Auch der heimische Sommer war ein Genuss. In Zermatt zog das Matterhorn unsere Blicke magisch an und die Schweizer Bergwelt tat gut, obwohl das Trainieren für das Trekking in Bhutan rückblickend vergebens war. Da kann der November nicht mithalten. Mir graut es.
Sehnsuchtsvoll klammere ich mich an die wärmende Teetasse. Der Sonntagmorgen trägt noch immer ein graues Kleid, der Säntis präsentiert sich schneeweiss. Wir lieben es, dem meist düsteren Monat November zu entfliehen. Unser Fernweh in den Tropen zu kurieren. Wärme zu tanken, um den nasskalten Winter zu überstehen. Auch jetzt sind wir infiziert, nicht etwa mit dem Coronavirus, nein, in uns steckt ein hartnäckiger Reisevirus. Unheilbar. Doch vorerst gilt das Motto:
Träume jetzt, reise später…
Es sind Luxusprobleme, die wir haben, das ist uns vollkommen bewusst. Denn es geht uns gut: Wir sind gesund – Fernweh und Reisefieber sind schliesslich keine lebensbedrohlichen Krankheiten. Auch haben wir reichlich zu essen, ein behagliches Daheim und einen Job. Obwohl sich beim Begriff Job mein Magen leicht verkrampft. Eine bittere Zeit liegt vor der ganzen Reisebranche, und hinter mir liegen aufwühlende Monate. Die erste Runde des Stellenabbaus bei Globetrotter heil überstanden, spült es glücklicherweise noch immer einen Lohn in meine Reisekasse. Wie es auf die Länge allerdings weitergeht, weiss keiner.
Reisen ist unsere Leidenschaft und gleichzeitig mein Beruf. Das Hobby zum Beruf zu machen, ist grundsätzlich eine wunderbare Sache. Doch jetzt in dieser Corona-Krise trifft es einen umso härter. Denn es ist eben nicht irgendein Job, sondern unser ganzer Lifestyle mit dem dreimonatigen Reisen, der daran hängt und den ich mit Roland leidenschaftlich auslebe. Sollte dies nun lediglich im 2020 nicht möglich sein, ist es verkraftbar. Doch ist in Zukunft ein unbeschwertes Entdecken ferner Länder überhaupt wieder möglich? Oder wie sieht die häufig zitierte neue Normalität punkto Fernreisen überhaupt aus?
Fragen über Fragen. Doch eines ist sicher. Wir sind dankbar. Dankbar, dass wir in den letzten zehn Jahren zusammen in viele exotische Länder eintauchen konnten. Und insbesondere dankbar, dass während unserer zweieinhalbjährigen Reise kein fieses Virus unser „Sich-einfach-mal-treiben-Lassen“ durchkreuzte. Als wir Pläne für diese im Voraus zeitlich unbegrenzte Auszeit schmiedeten, wollten wir unser Vorhaben bewusst nicht auf die lange Bank schieben. Man weiss nie, was passiert. Dabei dachten wir an Schicksalsschläge und unsere stets älter werdenden Eltern, aber nicht an eine wegen eines Virus verrückt gewordene Welt.
Über den Haufen geworfene „normale“ Ferienpläne sind nur halb so schlimm, vergleicht man mit Langzeitreisenden, denen eine „once in a lifetime“-Reise verübelt wurde oder deren nomadischer Lebensstil bedroht ist. Noch mehr fühlen wir mit den Menschen, die in einem Land leben, wo Wohlstand und Versicherungen fremd sind, wo ums Überleben gekämpft werden muss, wo Corona nur eines der traurigen Probleme ist. Auch stellen wir uns monatelange strikte Ausgangssperren schrecklich vor, insbesondere dann, wenn Menschen in ärmlichen Verhältnissen auf nur wenigen Quadratmetern hausen.
Dies betrifft viele Ecken dieser Welt, die wir im Laufe der Jahre bereist haben. Doch geht es den Einwohnern der Drittweltländer wirklich überall schlechter? Uns erreichen Aktualitäten aus dem fernen Osten Indonesiens, wo wir Ende 2019 unseren letzten Auslandaufenthalt verbrachten. Fast ein Jahr ist seither vergangen… Raja Ampat, ein wunderbarer Flecken – über wie unter Wasser. Eine ganz andere Welt. Ein anderes Denken, andere Erwartungen ans Leben, ein anderer Umgang mit Krisen. Wer wenig hat, hat auch wenig zu verlieren. Die Menschen leben im Jetzt und Heute, denken kaum an morgen. Trotz Corona ist ihre Lebensfreude nicht erloschen.
Wie gerne wäre ich nun dort, in der entlegenen Inselwelt Raja Ampat. Weit weg von den erdrückenden News, wie sie täglich auf die westliche Welt einprasseln. Maske auf, Maske ab. Was ist erlaubt, was nicht? Fraglos bringt Corona viel Leid, Krankheit und Tod. Doch statt Zuversicht versprühen die Nachrichten Angst und Unmut, und tragen bestimmt nicht zu einem gestärkten Immunsystem bei. Schon lange fragen wir uns: „Ist dieser Umgang mit dem bösen Virus gesund?“ Vielleicht werden so weniger Leute an Corona sterben, dafür umso mehr an Armut und Verzweiflung. Manchmal könnte man glatt vergessen, dass auf dieser Welt noch andere heimtückische Krankheiten wüten und tragische Unglücke passieren. Wohl müssen wir künftig mit dem Coronavirus leben, wie auch mit Krebs und Autounfällen – ja das ganze Leben ist ein Risiko.
Gedanken purzeln kreuz und quer durch meinen Kopf, schwirren reisefiebrig um den Erdball. Nach langem Hin und Her haben wir vor wenigen Tagen für Anfang November einen „Kurztrip“ gebucht: zwei Wochen Ägypten. Meeresluft schnuppern und in die Unterwasserwelt abtauchen. Das klingt verheissungsvoll. Wir gaben uns mit dem Träumen nicht mehr zufrieden. Ein Hauch Vorfreude kommt auf. Und ganz viel Skepsis. Was passiert noch alles bis dahin? Europa manövriert sich je länger desto mehr wieder in einen Ausnahmezustand – alles ist möglich.
Nun wünschen wir uns, vorerst hier etwas Frieden zu finden und abschalten zu können. Abschalten von den stets ändernden Corona-Massnahmen und möglichst unsere Ferien geniessen, sei es in den eigenen vier Wänden, allenfalls dem Tessin oder eben Ägypten. Die Wetterprognose ist zwar durchzogen, aber vielleicht beglückt uns hin und wieder goldenes Herbstwetter. Für das Arbeiten im Reisebüro musste ich ständig auf dem Laufenden sein, aber nun können mir Fallzahlen, Grenzsperren und Quarantäneregeln eigentlich für eine Weile egal sein. Hauptsache Ägypten empfängt das Hochrisikogebiet Schweiz weiterhin mit offenen Armen. Und der vorgeschriebene Corona-Test vor Abreise fällt negativ aus…
geniesst es – viel Freude und schöne Begegnungen wünsche ich euch!
Herzlichen Dank, Heidi. Meer und Palmen tun gut…
Sonnige Grüsse vom Roten Meer
Christine & Roland