Auf Umwegen nach Usbekistan
Unser Wunsch, vom Iran auf dem Landweg weiter nach Usbekistan zu reisen, erfüllt sich leider nicht. Es wurmt uns, dass wir das Transit-Visum für Turkmenistan nicht rechtzeitig erhalten haben, aber anderen Touristen ergeht es ebenso. Die beste Alternative scheint, Turkmenistan westlich zu umfliegen und vom Westen Kasachstans nach Usbekistan einzureisen. Dies ist auf die Schnelle nur möglich, da Schweizer in Kasachstan seit kurzem visafrei einreisen können. Gestern buchten wir günstige Flüge bis Aktau – eine Stadt, von der wir bis vor wenigen Tagen noch nie etwas gehört haben…
Da heute unser iranisches Visum abläuft, fliegen wir in einer ersten Etappe von Mashhad nach Dubai, um noch rechtzeitig aus dem Land zu gelangen. Im Flughafenbus spricht uns eine Iranerin an, die sich mit ihrer Familie auf eine Woche Ferien in Dubai freut. Die junge Frau stellt uns eine Frage nach der nächsten, erzählt euphorisch von ihren Träumen, die Welt zu bereisen. Ständig rutscht ihr das locker aufgesetzte Kopftuch in den Nacken – ihre Schwester trägt es satt am Kopf sitzend, keine Haarsträhne fällt heraus. Auf meine Frage, ob sie den Schleier auch in Dubai tragen wird, winkt sie ab: “Nein, auf keinen Fall!”. Ihre konservativ gekleidete Schwester nickt hingegen strahlend: “Aber sicher, ich liebe das Kopftuch!” Dass die beiden aufgeschlossenen Frauen Zwillingsschwestern sind, ist nicht nur deswegen kaum zu glauben, auch ansonsten scheinen sie grundverschieden…
In zwei Stunden überfliegen wir den Iran von Nordosten nach Süden und landen auf der anderen Seite des Persischen Golfes spätabends in Dubai – dort, wo wir vor genau einem Monat zu unserem Iran-Abenteuer aufgebrochen sind. Anstelle bereits am nächsten Morgen weiterzufliegen, legen wir einen Tag Reisepause ein. Der Tag verstreicht mit Ausschlafen, einer Abkühlung im Swimming Pool, Kaffee und Kuchen in der eisgekühlten Shopping Mall – draussen herrschen fast unerträgliche 40 Grad. Immerhin fühle ich mich in Jupe und T-Shirt richtig frei und geniesse es völlig, mich endlich wieder dem Sommerwetter entsprechend kleiden und ohne lästiges Kopftuch das Zimmer verlassen zu dürfen. Abends lade ich Roland zu einem verspäteten Geburtstagsessen ein. Später stossen wir in der Hotelbar mit einem erfrischenden Drink an – wir können uns kaum erinnern, wann wir das letzte Mal Alkohol konsumieren konnten…
Es ist das erste Mal auf unserer Reise, dass wir beim Check-In nach einem Ausreiseticket aus unserem Zielland gefragt werden. Offiziell ist zwar stets eines vorgeschrieben, aber kontrolliert wird es nur sporadisch. Doch wir haben kein Ausreiseticket aus Kasachstan – was nun? Die Dame am Schalter pfeift ihren Chef heran, aber es scheint ihn nicht gross zu interessieren. So lässt sie uns kurz darauf ziehen – wir atmen auf. Wieder überqueren wir den Iran, diesmal von Süden nach Nordwesten, jetten dem Kaspischen Meer entgegen. Der Blick durch das Flugzeugfenster auf die iranischen, teils schneeverdeckten Bergketten ist fantastisch – kurz zeigt sich sogar der höchste Gipfel, der Mount Damavand, bevor er sich wieder in Wolkenfetzen kleidet.
Im modernen Flughafen von Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, steigen wir um und düsen abends weiter nördlich. In einer Stunde überqueren wir das Kaspische Meer und landen zu bereits später Stunde in Aktau, im Südwestzipfel Kasachstans. Der Flughafen ist klein und überschaubar, die Einreise verläuft dementsprechend schnell und zu unserer Freude auch unkompliziert. Der Flughafen liegt weit ausserhalb der Stadt. Mit einem Amerikaner teilen wir ein Taxi und brausen durch die dunkle Nacht…
Unser Hotel liegt etwas abseits der Strasse in einer ruhigen Gegend. Vom grossen hellen Zimmer bietet sich eine Sicht in die Weite, bis hin zum blauen Wasser des Kaspischen Meeres. Noch etwas verschlafen stolpern wir in den Frühstücksraum und trauen unseren Augen kaum – ein riesiges Buffet lockt mit breiter Auswahl. Im Vergleich zum Iran wähnen wir uns hier im Schlaraffenland… “Was verschlägt euch nach Aktau?”, ertönt hinter uns eine Stimme in vertrautem Schweizerdialekt. Es stellt sich heraus, dass das sympathische Töfffahrer-Paar sich aus demselben Grund wie wir hier aufhalten – Turkmenistan umfahren.
Die Hotelangestellten sind freundlich, aber Englisch spricht hier keiner. Mit meinem minimalen Wortschatz an Russisch, dem Wörterbuch und dem Google-Translator versuchen wir ein paar Informationen aus der Rezeptionistin zu kitzeln. Bald finden wir den besagten Geldautomaten, der uns mit kasachischen Tenge eindecket, und die Reiseagentur, wo wir gewünschte Zugtickets für die Weiterreise buchen können. Überall stossen wir auf hilfsbereite Menschen. Die Bevölkerung ist ein Gemisch aus Kasachen und Russen, viele Gesichtszüge erscheinen uns chinesisch. Die meisten sind dem Englisch kaum mächtig, ihre erste Fremdsprache ist in der Regel Russisch. Vieles ist auch auf Russisch angeschrieben. Es ist bereits hilfreich, die kyrillischen Buchstaben entziffern zu können…
Die Stadt ist kein Juwel, wuchtige schäbige Sowjetbauten schiessen aus dem Boden. Ein richtiges Zentrum oder eine Altstadt gibt es nicht, lediglich ein paar unspektakuläre Denkmäler. Doch die Stadt ist grosszügig angelegt, die Strassenzüge und Gehsteige sind breit. Abgesehen von einer wichtigen Verkehrsachse trägt keine Strasse einen Namen, die Stadt ist in durchnummerierte Distrikte aufgeteilt. Mit den hier üblichen Adressen, wie z.B. 4-17-29, können wir aber herzlich wenig anfangen – 4 steht für den Distrikt, 17 für das Gebäude, 29 für die Wohnung. Auch grosse Parkanlagen finden sich, aber alles wirkt etwas ungepflegt und verwahrlost. So auch die felsige Küstenlandschaft und die Sandstrände des Kaspischen Meeres, wo wir uns in einem einladenden Restaurant direkt am Wasser verköstigen. Der kulinarische Höhenflug geht weiter – Caesar Salat und Hörnligratin, wie fein das schmeckt.
Über 1200 Kilometer lang, fast 500 Kilometer breit und bis zu 1000 Meter tief – das Kaspische Meer ist der grösste See der Erde. Der Bodensee findet in diesem riesigen Gewässer problemlos 650 Mal Platz. Das Kaspische Meer liegt in einer Senke und zählt zu den am niedrigsten gelegenen Regionen der Welt – seine Oberfläche liegt 28 Meter unter dem Meeresspiegel. Vom Salzgehalt her nimmt es eine Mittelstellung zwischen Süss- und Meerwasser ein und ist eigentlich halb See, halb Ozean…
Zwei Tage später, überpünktlich legen wir los – wir sind überrascht. Langsam rattert der lange Zug erst durch eine malerische Felsengegend von Mangistau, bevor die Landschaft in eine flache eintönige Steppe übergeht. Es ist Mittag und stickig heiss, nur manche Fenster können einen Spalt breit geöffnet werden. Die Zeit verstreicht langsam, auch kommen wir nur langsam voran. Es liegt noch eine lange Fahrt vor uns, bis wir morgen Nachmittag in Usbekistan ankommen. Wir logieren in der 3. Klasse, nicht etwa weil wir Geld sparen wollen, sondern weil es auf diesem Zug keine bessere Klasse gibt. Die Wagons verfügen über keine separaten Abteile, alles ist offen, 27 doppelstöckige Liegen in einem Raum. Schon nach wenigen Stunden spüren wir jegliche Knochen, denn die Polster sind steinhart. Ausser uns sind keine Touristen an Bord. Die Kasachen und Usbeken scheren sich kaum um uns, was sich nach dem Ausländer gegenüber neugierigen Iran ungewohnt anfühlt. Bestimmt liegt es aber auch an der Sprachbarriere, dass die Leute sich eher zurückhalten. Sowieso ist von allen Seiten bald nur noch ein Schnarchen in verschiedenen Tonlagen auszumachen…
“Hey, da sind die Franzosen!”, stupfe ich Roland aufgeregt an. Soeben in den Bahnhof von Beyneu gerollt, steht das Paar mit ihren bepackten Fahrrädern direkt vor unserem Zugfenster. Was für ein Zufall – wir haben die beiden vor einer knappen Woche letztmals vor dem turkmenischen Konsulat im Iran gesehen. Leider haben sie das beantragte Visum auch nicht erhalten, besteigen nun unseren Zug. Mittlerweile ist es Mitternacht, die Abfahrt zieht sich dahin. Die Grenze zu Usbekistan liegt nicht mehr weit entfernt und so kommt es, dass sich die gesamten Grenzprozedere mit Ausreise und Einreise die liebe lange Nacht hinziehen und wir kaum ein Auge zutun. Das Einreiseformular für Usbekistan ist nur in Russisch abgefasst – wir verstehen kaum etwas. Niemand spricht wirklich Englisch, ein Zugbegleiter kennt jedoch immerhin die nötigen Begriffe und füllt das Papier netterweise für uns aus. Zahlreiche usbekische Grenzwächter klappern den Zug mit Schnüffelhunden ab, durchsuchen hartnäckig das Gepäck verdächtiger Passagiere – wir bleiben zum Glück weitgehend verschont. Endlich, alle nötigen Stempel sind im Pass und der Zug setzt sich wieder in Bewegung.
Die Sicht aus dem Fenster hat sich seit gestern Nachmittag kaum verändert, noch immer tuckern wir durch eine trockene Steppenlandschaft. Morgens um sieben, wir legen uns aufs Ohr, hoffen noch etwas Schlaf zu tanken. Aber die Freude währt nur kurz! Unser Wagon wird von Verkäufern regelrecht überfallen, sie folgen einander dicht auf den Fersen, preisen ihr Angebot in voller Lautstärke an. Ein gefühltes “Warenhaus” drängt sich durch den Mittelgang, bietet von Esswaren und Getränken über Kleider und Spielzeug bis hin zu Uhren und Parfums alles an. Duftwolken nebeln uns ein, es herrscht ein Tumult und auf dem unteren Bett werde ich ständig angestossen – an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Übernächtigt wie wir sind, nagt dieser lebhafte Bazar stark an unseren Nerven… Wir sind erleichtert, als wir nachmittags – wiederum pünktlich – endlich unser heutiges Ziel erreichen. 26 lange Fahrstunden für knapp 900 Kilometer…
In Kungrad verabschieden wir uns von den radelnden Franzosen, suchen uns ein Taxi, verhandeln, ohne uns gegenseitig so richtig zu verstehen. Preise kommunizieren ist in Zeiten des Smartphones immerhin einfach. Der Fahrer braust in einer Stunde nach Nukus, wo wir die Nacht verbringen. Wir fühlen uns müde und verschwitzt, sehnen uns nach der anstrengenden Zugreise nach einer Dusche und einem richtigen Bett. Vor dem Hotel stehen drei mit Gepäck beladene Fahrräder. Unglaublich, wie viele im Iran und hier in Zentralasien in die Pedalen treten… Das Reisehandbuch lobt die Stadt in keiner Weise, somit sind wir eher positiv überrascht. Nebst grossen sowjetischen Plattenbauten finden wir sogar ein angenehmes Restaurant mit englischer Speisekarte und wissen somit, was wir bestellen, um unsere Hungerbäuche zu sättigen.
Heute steht die letzte Reiseetappe unseres Umweges an. Busse verkehren kaum, aber die freundliche Dame an der Rezeption kann uns ein Sammeltaxi vermitteln, was wir dankend annehmen. Machen wir uns selbständig auf, um zwei Plätze in einem Sammeltaxi zu ergattern, werden wir umgehend in ein Auto gesteckt, welches als Privattaxi fungiert und uns den vollen Preis oder noch mehr abknüpft. Wenn wir das Auto mit zwei anderen Passagieren teilen können, berappt jeder ein Viertel. Auch ist es sehr bequem, denn das Taxi holt uns zur gewünschten Zeit direkt beim Hotel ab.
Der Fahrer rast, bringt trotz miserablen Holperstrassen meist 100 Stundenkilometer oder mehr auf den Tachometer. Roland kommt zwar in den Genuss des Vordersitzes, spottet dafür jedes Schlagloch und kriegt es im rasanten Schüttelbecher sogar etwas mit der Angst zu tun. Mit zwei einheimischen Frauen auf die Rückbank gequetscht, bekomme ich den halsbrecherischen Fahrstil des älteren Usbeken nicht in gleicher Weise zu spüren – wohl besser so. Die Gegend ist wüstenhaft, manchmal erheben sich schwach ein paar Hügelzüge aus der ansonsten flachen Gegend. Nach rund dreieinhalb Stunden erreichen wir unser Endziel – Khiva, die historische Stadt nahe des turkmenischen Grenzübergangs, welchen wir mit dem erhofften Visum überquert hätten…
Kommentare
Auf Umwegen nach Usbekistan — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>