Eiskalte MacDonnell Ranges
Über 600 Kilometer quer durch die Wüste erstrecken sich die MacDonnell Ranges westlich und östlich von Alice Springs. Die zerklüftete Bergkette ist geschätzte 300 Millionen Jahre alt – unvorstellbar, schlichtweg uralt. Im Laufe der Zeit haben die von Norden nach Süden fliessenden Flüsse eine Reihe von Schluchten und Spalten in die windgepeitschten Gebirgszüge gegraben. Die Gegend ist ein Refugium für seltene Pflanzen und Wildtiere, auch stellen viele Orte eine wichtige Bedeutung für die seit Jahrtausenden hier lebenden Ureinwohner dar.
Die Redbank Gorge ist die von Alice Springs her gesehen letzte zugängliche Schlucht des West MacDonnell Nationalparks – von Osten her kommend für uns jedoch die erste. Auf dem kleinen, erhöht gelegenen Campingplatz mit Felsblick genächtigt, stapfen wir durch den Kies des ausgetrockneten Redbank Creeks. Das Bachbett wird zusehends schmaler, bis wir nach einer halben Stunde vor einem schattigen Wasserloch stehen, das uns den Zugang zur weiterführenden, sehr engen Kluft versperrt. Die Redbank Gorge stellt hier lediglich einen Riss im verwitterten Gestein dar. Um uns ragen rötliche hohe Felsenwände erhaben auf, muten fast wie eine Kathedrale an – vormittags vermag die Sonne noch kaum darüber hinweg blinzeln…
Der Mount Sonder ist mit knapp 1400 Metern einer der höchsten Gipfel in Zentralaustralien. Nach der Schluchterkundung wollen wir nicht mehr so hoch hinaus, es ist schon Mittag und ein langes kräfteraubendes Erklimmen an praller Sonne. Wir begnügen uns deshalb mit dem Mount Sonder Lookout. Im Zickzack schleust uns der Wanderpfad stetig bergan, beschleunigt unser Atem. Nach einer guten Stunde entschädigt vom Aussichtspunkt ein grossartiges Panorama von 360 Grad, auf den besagten Berg sowie weitere Hügelzüge.
Über die grobe Schotterpiste holpern wir zurück auf das graue Teerband. Um die in den Fels gefressenen Spalten der MacDonnell Ranges zu erreichen, ist jeweils ein Abstecher von ein paar Kilometern nötig, meist über ein unbefestigtes Strässchen. Noch sind wir 150 Kilometer von Alice Springs entfernt und schaffen uns nun in den kommenden Tagen Schlucht um Schlucht zur Oasenstadt im Osten vor… Die nahgelegene Glen Helen Gorge entstand dort, wo der Finke River, heute der einzige nennenswerte Fluss im Herzen Australiens, durch die Gebirgskette schneidet. Das Wasserbecken ist malerisch von grünem Schilf und roten bizarren Felsen umrahmt. Wegen des Windes präsentiert sich uns leider nicht das berühmte Bild, wo sich die Kulisse reizend im glatten Wasser spiegelt – dennoch ist es eine Augenweide.
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite entlang des fast gänzlich ausgetrockneten Flussbetts des breiten Finke River ist wildes Campen erlaubt. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir tuckern möglichst weit von der Hauptachse weg und lassen uns am Wasserlauf nieder. In hellem Sand, umgeben von Wüstengras und pittoresken Felsformationen finden wir ein lauschiges Daheim für die kommenden zwei Nächte.
Nur das Geschnatter der Enten durchbricht die abendliche Stille. Am klaren Himmel funkeln die Sterne um die Wette. Ein knisterndes Lagerfeuer spendet behaglich etwas Wärme und verströmt einen Hauch Abenteuer… Bereits in die Tiefen des Schlafsacks gekrochen, lässt uns sporadisch ein Knabbern aufhorchen. Doch immer wenn wir absichtlich lauschen, verstummt das unheimliche Geräusch. Besucht uns etwa eine Maus?
Auf eine klare Nacht folgt ein empfindlich frischer Morgen, und Gewissheit. Ein Nagetier hat sich wie vermutet an unseren Vorräten vergriffen, das Brot und andere Tüten sind angefressen. Wir hoffen, der freche Schmarotzer hat sich wieder aus dem Staub gemacht und fährt nicht weiterhin als blinder Passagier mit… Der aufgehende Sonnenball heizt wacker ein, doch schon bald bläst uns eine auffrischende Biese um den Kopf. Es fühlt sich an wie an einem Wintertag, wo man sich ohne Bewegung gerne bald wieder in die gute warme Stube verzieht. Die Füsse sind durchgefroren, die Finger klamm. Kein Wunder, niemand frühstückt normalerweise bei zehn Grad draussen.
Die wunderschöne Ormiston Gorge ist nur einen Katzensprung entfernt. Vom Ghost Gum Lookout lässt sich die majestätische Schlucht mit dem von Bäumen beschatteten Wasserloch hervorragend überblicken. Um die Kälte aus den Knochen zu schütteln, starten wir strammen Schrittes zum Ormiston Pound Walk. Ein schmaler Pfad führt auf den Beckenrand, wo wir den hellgrünen
Wüstengräserteppich des riesigen Ormiston Pound überschauen. Die acht Kilometer lange Rundwanderung lotst uns ein paarmal durch das trockene Flussbett, vorbei an Eukalyptusbäumen mit gespenstisch weissen Stämmen. Nun verengt sich der Ormiston Pound allmählich zu einer hoch aufragenden Schlucht mit verblüffender Farbenvielfalt. Die mächtigen Gesteinsbrocken schimmern von orangerot über lila bis
grauschwarz. Staunend balancieren wir über grosse Steine im Flussbett, bis uns Wasser zwingt, Schuhe und Hosen abzustreifen. Das Durchwaten des eiskalten Nass ist unausweichlich – Kneippen sei gesund. Um unsere Füsse wieder auf Normaltemperatur zu bringen, hilft nicht zuletzt der heisse Cappuccino – und bestimmt auch der leckere Kuchen – am Kiosk beim Ausgangspunkt.
Zwanzig Kilometer weiter sind die Ochre Pits einen kurzen Halt wert – ein gigantischer Farbkasten der Aborigines. Das intensive Licht der Nachmittagssonne bringt die verschiedenen Ockertöne des verwitterten Kalksteins zum Leuchten, der tiefblaue Himmel über der zehn Meter hohen Felswand bildet einen sagenhaften Kontrast. Im Rahmen von Zeremonien und Ritualen bemalen sich die Ureinwohner mit den natürlichen Farben, früher dienten diese auch als Medizin.
Die nächste Schlucht, die Serpentine Gorge, sparen wir uns für morgen auf. Dank unseres Geländewagens erreichen wir über eine ruppige Piste ein Bushcamp in der Nähe. Kein Komfort, doch ein Plätzchen für uns allein. Etwas in den Bäumen versteckt, verabschiedet sich die Sonne für unser Gutdünken viel zu früh. Das Thermometer sackt innert Kürze richtiggehend in die Tiefe und schon abends um sechs herrschen Temperaturen im einstelligen Bereich. Der Campingspass ist vorbei. Die Kälte kriecht regelrecht in uns hinein, das Haushalten im Freien ist ungemütlich. Im Nu ist das dampfende Nachtessen lauwarm, die Hände frieren beinahe am frostigen Besteck fest. Windböen zerren an den Kleidern, und an unseren Nerven. Roland entfacht geschickt ein Feuer, allerdings wärmen die wild im Wind lodernden Flammen nur bedingt. Wir drehen uns wie ein Spanferkel in der Vertikalen, damit wir rundum etwas braten können. Die Glut ist sagenhaft, wir würden sie am liebsten unter unserem Bett verstreuen…
Im Morgengrauen frösteln wir bei vier Grad im Schlafgemach – wir hätten also genau so gut im Kühlschrank schlummern können. Als die Sonne endlich über die Baumkronen lugt, wirbelt schon wieder diese stürmische Biese. Der dritte Tag in Folge nagt das Wetter arg an unserer Laune. Der Winter ist früher eingebrochen als uns lieb ist. Zugegeben, wir sind etwas spät dran, aufgrund verlorener Zeit wegen mehreren Reparaturen sowieso… Das kontinentale Wüstenklima wartet mit extremen Temperaturen und erheblichen jahreszeitlichen Schwankungen auf. Schwitzt man im Sommer tagsüber bei einer trockenen Backofenhitze, schlottert man im Winter nachts bei klirrender Eiseskälte.
Auf zur Serpentine Gorge. Ein kurzer Spazierweg führt zum engen verwinkelten Schluchtensystem, dessen Eingang durch ein Wasserloch blockiert wird. Die Kluft klafft leider gegen die blendende Sonnenstrahlen auf, somit kommen leider keinerlei Farben und Strukturen richtig zur Geltung. Ein steiler Weg schlängelt sich zu
einem Aussichtspunkt hoch, belohnt mit grandiosen Blicken. Auf einem Felsvorsprung hockt ein Wallaby und lässt sich von unserer Anwesenheit nicht beirren. Das kleine Felsenkänguruh scheint noch nicht auf Betriebstemperatur zu sein und betet verschlafen die Sonne an – nur gelegentlich bewegt es sich wie im Zeitlupentempo. Später putzt das süsse Beuteltier mit hellbraunem Fell seinen dunklen überlangen Schwanz.
Beim nächsten Einschnitt der MacDonnell Ranges schnabulieren wir hungrig unser Sandwich. Der Ellery Creek zwängt sich durch die Bergzüge und formt hier ein permanentes Wasserbecken von bis zu 18 Metern Tiefe. Ein geeigneter Spot für ein Picknick und an heissen Tagen beliebt zum Schwimmen – das Wasser sei aber fast das ganze Jahr über eisig kalt. Ein paar Mutige wagen sich trotzdem hinein. Erraten, wir gehören nicht dazu… Mittlerweile sind wir noch 90 Kilometer von Alice Springs entfernt, und hin- und hergerissen. Schlussendlich werfen wir unseren Plan, die letzten noch verbleibenden Schluchten zu besuchen, kurzfristig über den Haufen. Denn unsere Lust auf eine weitere Nacht ohne heisse Dusche in kalter Natur ist buchstäblich vom Winde verweht.
Nach drei Wochen quer durch die Leere des wüstenhaften Outbacks gelangen wir am späten Nachmittag nach Alice Springs, ungefähr in der geografischen Mitte Australiens auf einer Höhe von 600 Metern gelegen. Auf dem Campingplatz geht das Frieren sogar unter der warmen Dusche weiter – die luftigen sanitären Anlagen sind offensichtlich für den Hochsommer ausgelegt. So kann es nicht weitergehen, wir brauchen eine Pause. Verzweifelt buchen wir für die morgige Nacht ein Zimmer in einem Motel… Endlich einmal wieder ein breites, weiches Bett und über zwanzig Grad, die reinste Wohltat. Genüsslich schlafen wir aus und schmeissen unsere Pläne kurzerhand noch einmal über den Haufen. Wir reisen heute nicht ab, sondern verlängern um zwei Nächte. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist um einiges besser wie auf dem Camping, wo wir für einen Stellplatz bereits beinahe die Hälfte zahlen – also gönnen wir uns das.
Sonntags wirkt Alice Springs ziemlich ausgestorben. Wir schlendern durch das im Schachbrettmuster angelegte, überschaubare Zentrum, und spüren immerhin ein geöffnetes Café auf. Frisch gestärkt spazieren wir auf den Anzac Hill. Vom Kriegsdenkmal schweift unser Blick über die sich vor den MacDonnell Ranges ausbreitende Stadt. Geprägt durch diese bezaubernde Landschaft wuchs der einst kleine Ort rasch zu einem Touristenzentrum an und zählt heute knapp 30’000 Einwohner. Die einzige Stadt auf weiter Flur – rund 1500 Kilometer nördlich von Adelaide an der Südküste, und ebenso weit von Darwin an der Nordküste entfernt.
Meistens machen wir um Museen einen weiten Bogen, doch bei den „Fliegenden Ärzten“ machen wir eine Ausnahme. Gebannt folgen wir dem über die Leinwand flimmernden Streifen, der uns einen spannenden Einblick in die Entstehung und Arbeit der durch die Lüfte schwebenden Krankenstationen gewährt. Der „Royal Flying Doctor Service“ wurde im Jahre 1928 gegründet – zuvor bedeutete eine schwere Krankheit in der australischen Weite den sicheren Tod.
Noch heute ist das riesige Outback vielerorts spärlich besiedelt und unerschlossen. Der Stützpunkt in Alice Springs ist für ein Gebiet mit einem Radius von 600 Kilometern zuständig, in dem lediglich etwa 16’000 Menschen leben. Mit kleinen Fliegern kann innerhalb von zwei Stunden jede Person rund um die Uhr erreicht und ärztlich versorgt werden. Knapp die Hälfte der Flotte wird durch 32 Flugzeuge vom Typ Pilatus PC-12 gestellt – Schweizer Schutzengel in Australien.
Das Wochenende ist um, heute Montag können wir uns endlich der Reparatur des Gasherds widmen. Unser Vermieter hat bereits entsprechende Kontakte geknüpft. An der genannten Adresse empfängt uns missmutig ein Drachen – seinem mürrischen Gesichtsausdruck haftet „Achtung bissig“ an. Unwirsch wimmelt uns die ältere Frau mit grauem Kurzhaarschopf ab, sie könne uns nicht weiterhelfen. Noch während wir auf dem Grundstück stehen, unterstützt uns der Vermieter mit einem
erneuten Anruf. Doch die schroffe Dame will von einer angeblich zugesagten Reparatur nichts mehr wissen und legt den Hörer vorzeitig auf. Unglaublich, dass hier in Alice Springs auch sonst keiner fähig oder willig ist, einen Gasherd zu flicken oder zu ersetzen. Unser Vermieter rät, stattdessen einen portablen Herd zu kaufen. Wieder etwas mehr im engen Fahrzeug, doch es bleibt uns nichts anderes übrig… Im Campingladen stehen wir hilflos vor einer breiten Auswahl. Wir schildern dem hilfsbereiten Verkäufer unsere Situation. „Oh, you have already met the Rottweiler down the road“, wiehert er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Die kratzbürstige Lady ist also wohlbekannt…
Auch bei der zweiten eindrücklichen Institution, der „School of the Air“, blicken wir neugierig hinter die Kulissen. Im Jahre 1951 ins Leben gerufen, sei es das weltweit grösste Klassenzimmer. Der Unterricht wird über ein immenses Gebiet verbreitet, welches rund dreissig Mal so gross wie die Schweiz ist. Durchschnittlich sind 120 Schüler eingeschrieben. Es sind Kinder, die isoliert auf grossen Rinderfarmen leben, in Nationalparks, auf entlegenen Raststätten oder in
Gemeinschaften der Aborigines. Eine Familie muss mindestens 50 Kilometer abseits einer städtischen Schule wohnen – die am weitesten entfernten Kinder sind über 1000 Kilometer von Alice Springs weg. Bis 2005 wurde das Fernstudienprogramm per Radiokurzwelle übertragen, heute sitzen die Kinder dank Satelliten-Breitbandinternet mit Computer und Webcams in einem virtuellen Klassenzimmer. Live können wir einer Schulstunde beiwohnen und beobachten fasziniert, wie die Lehrerin zwar einsam im Studio hockt, aber lachend mit verschiedenen Bildschirmen hantiert und ihre kleinen Sprösslinge lobt, als würden sie direkt vor ihr sitzen.
Trotz winterlicher Wettervorhersage möchten wir in den nächsten Tagen in der Umgebung noch ein paar Naturschönheiten anpeilen. Es soll nicht sein. Auf halbem Weg zur Felssäule Chambers Pillar im Süden, leuchtet am Armaturenbrett unverhofft ein Warnsignal auf. Das Handbuch zitiert uns auf schnellstem Weg zu Toyota, da etwas mit dem Treibstoffsystem nicht stimme. Ein tiefer Seufzer entgleitet mir, Enttäuschung breitet sich aus. Roland ist auch alles andere als hocherfreut, sieht es aber dennoch von der positiven Seite: „Besser jetzt, als später irgendwo im Nirgendwo.“ Wie Recht er hat. Auf der holprigen Schotterpiste stauben wir zurück – drei Stunden später hat uns Alice Springs wieder. Für den Nachmittag erhalten wir in der Toyota Garage einen Termin. Der Dieselfilter ist verstopft und wird ausgewechselt. „Unreiner Treibstoff ist schuld“, erklärt uns der sympathische Fachmann mit indischen Gesichtszügen, „oder bei einem alten Fahrzeug wie diesem kann auch ein verschmutzter Tank der Übeltäter sein.“ Was, unser sechsjähriger Camper ist alt? Na ja, stolze 300’000 Kilometer trägt er auf dem Buckel, sein fortgeschrittenes Alter ist vielleicht darauf bezogen.
Der Tag ist um, er war für nichts. Wir schweifen aus der Stadt auf einen kostenlosen Übernachtungsplatz ausserhalb. Dabei geht es uns nicht nur ums Geld. Doch dort können wir uns ein Plätzchen mit möglichst wenig Bäumen aussuchen, damit wir morgens die volle Sonnenwucht abkriegen. Auf den herkömmlichen Campingplätzen gibt es meist viele schattenspendende Bäume, die in den Sommermonaten bestimmt begehrenswert sind, für uns jetzt aber ein Hindernis darstellen. Der Abend ist hundekalt, die Nacht noch viel kälter. Das Quecksilber sinkt unter den Gefrierpunkt, auch in unserer Schlafstätte. Blech bietet kaum Isolation – die Temperaturdifferenz von draussen zu drinnen beträgt jeweils höchstens eins bis zwei Grad. Wir überstehen diese langen bitterkalten Nachtruhen nur, indem wir in Thermowäsche, Wollsocken und Mütze verpackt uns in den Schlafsack mummen und dicht aneinander kuscheln. Die grösste Qual ist das Aufstehen. Doch immerhin strahlt heute wieder die Sonne, dem Wettergott sei vielmals Dank…
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